Aktuelles

ProfiPress

Agentur für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit, journalistische und redaktionelle Dienstleistungen.

AllgemeinGemeinde Kall

Anonyme Seebestattung statt Europa

Dr. Till Klein aus Aachen berichtete im Haus der Begegnung über seine Tätigkeit als ehrenamtlicher Arzt bei Seewatch – Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Engagiert für Vielfalt“ – Kooperation von Gemeinde Kall, Kreis Euskirchen und Caritas

Kall – Als Arzt ist Dr. Till Klein einiges gewohnt. „Als Notarzt habe ich gelernt, bei schweren Unfällen mit vielen Verletzten die Patienten maximal 30 Sekunden zu untersuchen und dann in Kategorien einzuteilen.“ Grün für Menschen mit nicht lebensbedrohlichen Verletzungen, Rot für Menschen mit schweren Verletzungen, die akute Hilfe benötigen, und Schwarz für Tote oder Menschen, denen nicht mehr zu helfen ist.

Bis zu 400 Flüchtlinge werden von den Schleppern auf ein Boot, das den Namen kaum verdient, gepfercht. Viele dieser Schiffe schaffen es gerade einmal an den Rand der 24-Meilen-Zone, ab der das internationale Seerecht gilt. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Doch Flüchtlinge, die im Mittelmeer gekentert sind, seien quasi alle Kategorie Rot. Die Regeln werden außer Kraft gesetzt. Stattdessen gelte: „Wer wild um sich schlägt, kann nicht schwimmen, dem ist quasi nicht mehr zu helfen. Wer sich ganz ruhig bewegt, kann schwimmen, der ist Grün. Und wer gar nichts mehr macht, der ist tot.“ Geborgen werden die Verstorbenen nicht. „Dafür haben wir auf unseren Booten keine Möglichkeit“, beschreibt es der Mediziner. Die Flucht endet als anonyme Seebestattung. Offiziell sind seit 2014 mehr als 20.000 Menschen bei der Überfahrt auf dem Mittelmeer gestorben oder werden noch vermisst. Fast 29.000 Flüchtlinge wurden immerhin gerettet.

Es sind harte Entscheidungen, mit denen Till Klein in seinem Urlaub konfrontiert wird. Denn er ist „Arzt und nebenberuflich Arzt“. Während andere Menschen zum Wandern in die Berge oder zum Baden an den Strand reisen, verbringt der 32-jährige Mediziner aus Aachen seine Freizeit auf einem Schiff der Hilfsorganisation Seawatch und rettet Flüchtlinge auf dem Mittelmeer.

Engagiert für Vielfalt

Über diese ehrenamtliche Arbeit berichtete er nun im Haus der Begegnung in Kall. Eingeladen hatten neben der Integrationsbeauftragten Gemeinde Kall, Alice Gempfer, das Kommunale Integrationszentrum (KoBiz) des Kreises Euskirchen sowie der Caritasverband für die Region Eifel. Die Veranstaltung fand statt im Rahmen der Reihe „Engagiert für Vielfalt“ von KoBiz und Caritas. Seit zwei Jahren ist Till Klein für Seawatch im Einsatz. „Ich bin der Meinung, dass es mir gut geht, und bin deshalb ehrenamtlich tätig“, erklärt er den Grund. Und er ist der Meinung: Jeder kann ein wenig dafür tun, um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. „Mitmachen, spenden, weitersagen – keiner von uns kann sagen: Das geht nicht“, so Klein.

Referent Dr. Till Klein (v.r.) wurde im Haus der Begegnung begrüßt von Roland Kuhlen (Kommunales Integrationszentrum), Alice Gempfer (Gemeinde Kall) und Lydia Honecker (Caritasverband für die Region Eifel). Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Einfach ist das Ehrenamt in der Hilfsorganisation nicht, das wird mit jedem Wort deutlich. Viele der Zuhörer wirken getroffen von Kleins Worten. Wenn er berichtet, dass die älteren Seawatch-Boote ein bis zwei Tage brauchen, bis sie vom Ausgangsort, momentan Griechenland, in die Einsatzzone im Mittelmeer gelangt sind – und damit zu spät kommen zur Rettung. „Das ist, wie mit einem Hollandrad die gesamte afrikanische Küste abzufahren“, zieht er einen Vergleich. Oder wenn er erzählt, wie Flüchtlinge, sobald sie die Seawatch-Boote sehen, ins Wasser springen, um gerettet zu werden – und sich damit in Lebensgefahr begeben.

„Die Boote werden immer schlechter“

Bis zu 400 Flüchtlinge befinden sich in mehreren Ebenen auf manchen Booten, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Losgeschickt in der Dämmerung in Tripolis von Schleppern, die behaupten, das europäische Festland sei nach einer bis eineinhalb Stunden erreicht. „Die Boote werden immer schlechter“, erklärt. Früher fanden viele Einsätze mitten auf dem Mittelmeer statt. Die Zone hat sich nun immer mehr in Richtung libysches Festland verschroben. Manche Boote erreichen noch nicht mal mehr die 24-Meilen-Grenze, ab der internationales Seerecht gilt.

Gebannt hörten die Zuschauer im Haus der Begegnung in Kall den Ausführungen des Aachener Mediziners Till Klein zu, der von seiner Arbeit bei Seawatch erzählte. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

Wer gerettet wird, ist nicht nur oft traumatisiert, sondern auch schwer verletzt. Viele Flüchtlinge werden an Füßen und Beinen schwer verätzt durch eine Mischung aus Treibstoff, Fäkalien, Dreck und Salzwasser. „Diese Menschen benötigen eigentlich intensivmedizinische Betreuung“, meint Klein. Die ist an Bord aber nicht vorhanden. Hinzu kommen Verletzungen durch Nägel, die aus den Brettern stehen, mit denen die Boote verstärkt werden.

Und auch von schwersten Misshandlungen berichteten Flüchtlinge, so Klein, der auch die Folgen von Folter mit Bilddokumenten belegt. Kinder werden in Libyen verschleppt. Das Land, einst wohlständig, ist seit Jahren im Bürgerkrieg, Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Frauen werden vergewaltigt, verkauft und zur Prostitution gezwungen, Männer gefangengenommen und gefoltert, bis ein Lösegeld bezahlt wird.

Eigentlich werden ertrunkene Flüchtlinge notgedrungen im Meer belassen. „Doch mein Kollege hat es nicht übers Herz gebracht, und dieses Baby an Bord geholt“, berichtet Dr. Till Klein. Foto: Thomas Schmitz/pp/Agentur ProfiPress

So unglaublich das klingt: Till Klein versucht, diese Fälle aus professioneller Sicht zu sehen. Er gibt zu: Würde er sich jedes Schicksal zu Herzen nehmen, könne er das nicht aushalten. „Aber dann rettet man 20 Menschen die ihre 20 individuellen Geschichten erzählen – das macht mich natürlich schon betroffen.“

Kritik übt er an der Europäischen Union. 2012 war die EU noch für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. „Das darf man nicht falsch verstehen: Ich bin stolz, Europäer zu sein. Aber ich befürchte, die Idee des starken Europas ist gescheitert.“

pp/Agentur ProfiPress