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Blei: Haftet der Bund?

Alte Bleiberichterstattung von 1982 – 1984 wirft 2019 ganz aktuelle Fragen auf, zum Beispiel die nach Einflussnahme bzw. Nichteinflussnahme und Haftung von Land NRW und Bundesrepublik  – Damals wurden 140 Hektar Problemzonen abgedeckt, die die Preussag nach der Bergwerksschließung 1957 nicht rekultiviert der Nachwelt überließ – Kinderarzt Dr. Jörg Schriever warnte angesichts der ersten Bleidiskussion in den 80er Jahren „vor übertriebener Hysterie und Sorge“

Von Manfred Lang

Mechernich/Kommern – „»Ein Polizist, der den ganzen Tag an der Kreuzung steht und den Verkehr regelt, ist mindestens so gefährdet wie ein Strempter oder Kalenberger«“, diese Meinung vertrat Kinderarzt Dr. Jörg Schriever vor 250 Bürgern, die der Einladung der »Arbeitsgemeinschaft Blei« nach Breitenbenden gefolgt waren“, schreibt Ursula Weidenfeld am 10. Mai 1982 in der „Kölnischen Rundschau“.

Wir blicken in dieser „Bürgerbrief“-Ausgabe auf die Berichterstattung zur Bleidiskussion vor über 35 Jahren zurück. Sie bewegte die Öffentlichkeit  und wirkte genauso polarisierend wie heute. Manche machten sich  damals Sorgen, andere, vermutlich ein Großteil der Bevölkerung, fühlten sich sogar persönlich angegriffen, weil man ihnen auf den Kopf sagte, es sei mit Risiken behaftet, in ihrer Heimatstadt zu leben.

Diese Luftaufnahme von 1970 macht das ganze Ausmaß unabgedeckter Bleisandgebiete rund um den Mechernicher Ortseingang Richtung Bleibach und Bleiberg deutlich. Luftbild: Archiv Kern/pp/Agentur ProfiPress

Was war passiert? Der SPD-Politiker und spätere DGB-Landesvorsitzende Dieter Mahlberg hatte mit Unterstützung des Redakteurs Wolfgang Rau („Kölner Stadt-Anzeiger“) eine wissenschaftliche Arbeit an die breite Öffentlichkeit gebracht, die besorgniserregende Bleikonzentrationen besonders im Bergschadensgebiet und entlang der früheren Erzwäschen und Erzhämmer am Bleibach zum Gegenstand hatte.

Bleiallgegenwart verdrängt

Luftaufnahmen aus dem Archiv des Mechernicher Fachbereichsleiters Hans Peter Kern (Stadtverwaltung) zeigen die wüstenähnlichen Bleisandzonen, die damals weite Teile des früheren Bergbau- und Hüttenbereichs bedeckten. Man wusste im Prinzip, dass Blei im Boden im Stadtgebiet allgegenwärtig ist. Aber man hatte es erfolgreich verdrängt.

Mit dem „Outing“ der wissenschaftlichen Untersuchungen durch Mahlberg und Rau Anfang der 80er Jahre lag nun als Faktum auf dem Tisch, was alle insgeheim gewusst, sich damit aber arrangiert und eingerichtet hatten.

Das Bergarbeiterdorf Mechernich 1930 zwischen Abraumgebiet im Vordergrund sowie Äckern, Wiesen und Wäldern in Richtung des heutigen Gebietes um die Alte Kirche, Mechernich-Nord und Kommern-Süd im Hintergrund. Luftbild: Hansafoto/Archiv Kern/pp/Agentur ProfiPress

Seit Generationen wurde zumindest von den meisten beherzigt, dass man Gemüse aus dem Garten wäscht, schrubbt oder schält, je nachdem, ob es sich um Salat oder Wurzelknollen handelt. Selbst der Umstand, dass nach Hochwassern entlang der Bleibachauen Vieh mit Schwermetallvergiftung zusammenbrach und notgeschlachtet werden musste, hatte etwas Alltägliches. Es gab eine Bleischadenskasse, in die die Preussag einzahlte, und die gab in solchen Fällen Entschädigungen…

In diese doch fragwürdige Idylle hinein platzten die Untersuchungen damals wie eine Bombe – und lösten heftige Reaktionen aus. Die Bleisandhalden und Wanderdünen sowie „der Sand“ entlang der früheren Erzwäschen und Erzhämmer des Bleibachs zwischen Kalenberg und Roggendorf mit Belastungen bis zu 20 Gramm (!) Blei pro Kilo Erde wurden mit unbelastetem Mutterboden abgedeckt und bepflanzt.

„Gefahr aus dem Garten eher gering“

Bereits 1984 meldete Günter Hochgürtel im „Kölner Stadt-Anzeiger“ nach der Abdeckung von 120 der 140 Hektar Problemzonen: „Die ärgsten Bleigefahren jetzt im Griff“. Schon 1982 hatte Dr. Jörg Schriever, der frühere Chefarzt des Kreiskrankenhauses Mechernich, „vor übertriebener Hysterie und Sorge“ gewarnt, schrieb Dr. Ursula Weidenfeld in dem eingangs erwähnten Zeitungsbericht: „Durch die vielseitige Ernährung sei heute die Gefahr durch Nahrung aus dem eigenen Garten sehr gering.“

Eins stellte der frühere Chefarzt damals in der Bürgerversammlung auch fest, so die „Kölnische Rundschau“: „Vergiftungen mit Nerven-. und Hirnschäden seien in Mechernich nur in der Zeit vorgekommen, als noch Blei verhüttet wurde“. Wolfgang Rau betonte im „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass Dr. Schriever ausdrücklich gesagt hatte, noch nie in seinem Leben „einen Bleikranken gesehen oder untersucht“ zu haben.

Blick auf das sogenannte Bachrevier in unmittelbarer Nähe Mechernichs, links der noch stehende Malakowturm und der 1982 gesprengte Große Förderturm. Gut zu sehen sind die Spülleitungen, die den Bleisand befeuchten und ein Verwehen verhindern sollten. Sie wurden mit der Bergwerksschließung 1957 von der Preussag abgestellt, das Gelände blieb wie alle Bleischadenszonen unrekultiviert liegen. Foto: Archiv Kern/pp/Agentur ProfiPress

NRW-Gesundheitsminister Professor Dr. Friedhelm Farthmann gab am 25. Oktober 1982 in einer Pressemitteilung der Düsseldorfer Landesregierung bekannt: „Keine Gesundheitsgefahren durch Blei in Mechernich“. Darin heißt es wörtlich: „Medizinische Untersuchungen im Raum Mechernich haben keine Anhaltspunkte für akute gesundheitliche Gefährdungen durch die hohe Bleibelastung in diesem Gebiet erbracht.“

Farthmann bezog sich mit dieser Feststellung bei einer Pressekonferenz in Mechernich auf das Ergebnis einer medizinischen Reihenunter-suchung, die der Aachener Professor Dr. Hans J. Einbrodt im Sommer 1982 im Raum Mechernich vorgenommen hatte.

500 Personen untersucht: Entwarnung

Prof. Einbrodt hatte im Juli 1982 im Auftrag des Gesundheitsministeriums in den Orten Mechernich, Kommern, Roggendorf, Strempt und Kall 500 Personen untersucht – vier Fünftel davon Kinder. Farthmann: „Das Ergebnis der Untersuchung zeigt, dass Sorgen um mögliche Gesundheitsschäden als Folge der Bleibelastung nicht berechtigt sind“

Gleichwohl veranlasste die NRW-Landesregierung damals über den seinerzeitigen Regierungspräsidenten Dr. Franz-Josef Antwerpes die großflächige Abdeckung besonders belasteter Gebiete wie Bleisandhalden, Wanderdünen aus Bleisand im Bergschadensgebiet und die komplett mit weißem bleihaltigem Sand übersäte Bleibachaue zwischen Kalenberg und Roggendorf.

Die Preussag, ein halber Staatsbetrieb, der zu großen Teilen der Bundesrepublik Deutschland gehörte, hatte das Bergwerk 1957 geschlossen und ohne Umwelt- und Rekultivierungsmaßnahmen verlassen. 1984 blieb es bei „Appellen“ an den Konzern, sich seiner Verantwortung am nicht rekultivierten Bleiberg zu stellen. Eine Frage, der man angesichts der neuerlichen Bleidiskussion, heute neu stellen und beantworten wird.

Berieslungsanlagen mit dem vage zu erkennenden Schafsberg im Hintergrund. Foto: Archiv Kern/pp/Agentur ProfiPress

Haftungsfragen und die Übernahme der Kostenträgerschaft wurden damals möglicherweise nicht oder ungenügend geprüft, so die Befürchtung bei der Stadtverwaltung heute. Inwieweit das Land NRW über seine Bergämter Einfluss auf die gravierenden Umweltschäden in Mechernich und Umgebung durch die Preussag genommen hat, ist nicht überliefert. Für Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick ist es Fakt, dass das Land Nordrhein-Westfalen über sein Bergamt hätte Einfluss nehmen können.

Laut Zeitungsberichten blieb es damals bei Bodenuntersuchungen, Bodenabdeckungen und Untersuchungen an Menschen, nach denen aber weitgehend „Entwarnung“ gegeben wurde. Der Mühlensee in Kommern, ein ehemaliges Bleisandabsetzbecken, wurde ausgebaggert und neu ausgebaut.

RP füllt Bleitagebau „Virginia“ mit Müll

Regierungspräsident Antwerpes persönlich kam auf die Idee, eine der größten Problemzonen am Bleiberg, den völlig offen liegenden Tagebau Virginia in Höhe Strempt, Denrath und Kalenberg zur damals größten Mülldeponie Deutschlands umzuwandeln, was dann auch geschah und aus einer Bleiproblemzone eine hunderte Millionen schwere Einnahmequelle für den Kreis Euskirchen als Betreiber machte.

Aktueller Anlass für die Maßnahmen und die jahrelang anhaltende Bleidebatte am Bleiberg und für die medizinischen Untersuchungen im Raum Mechernich war damals die von Mahlberg/Rau geoutete Erhebung über eine mögliche Bleibelastung von Pflanzen und Böden durch die Landwirtschaftskammer Rheinland.

Nicht alle Rekultivierungsflächen „schlugen“ an. Viele Bepflanzungen gingen wieder ein, zum Beispiel dort, wo man versuchte, mit Klärschlämmen und Bergbauabraum lebensspendenden Boden zu „erschaffen“. Foto: Archiv Kern/pp/Agentur ProfiPress

In der Pressemitteilung vom Oktober 1982 heißt es weiter: „Farthmann betonte, dass nach übereinstimmender wissenschaftlicher Meinung der Blut-Blei-Spiegel das derzeit beste Maß zur Abschätzung der Bleibelastung der Bevölkerung darstelle.“ Die medizinischen Untersuchungen hätten ergeben, dass die dafür von der Europäischen Gemeinschaft entwickelten Richtwerte in allen untersuchten Ortschaften – Mechernich, Kommern, Roggendorf, Strempt und Kall – eingehalten sind. Auch Urin- und Blutbilduntersuchungen hätten keine Hinweise auf gesundheitliche Gefährdungen als Folge der Bleibelastung erbracht.

Der Minister wies aber auch darauf hin, dass die Bleibelastung bei Kindern in den Orten Roggendorf und Strempt – obwohl noch innerhalb der tolerierbaren Grenze – deutlich höher sei als in den anderen untersuchten Ortschaften.

Nach Meinung der Experten sei dies aber nicht auf eine Schwebstoffbelastung der Luft, sondern in erster Linie auf die Aufnahme über die Magen- und Darmwege zurückzuführen. Farthmann halte deshalb eine Abdeckung der noch vorhandenen Bleisandhalden für notwendig, hieß es damals. Er werde alle Bestrebungen unterstützen, den Bund für die Sanierung dieser Schadensflächen heranzuziehen . . .

„Zustandsstörer Bundesrepublik“

Dr. Jörg Schriever sagte in der erwähnten Bürgerversammlung, der Mensch sei in der Lage, relativ hohe Bleimengen an den Knochen abzulagern: „Blei ist aber nur in ionisierter Form, das heißt, in gelöster Form giftig. Die Bleiablagerungen an den Knochen dienen als Depot und sind im Körper unschädlich. Der Körper kann zehn bis 20 Gramm Blei verstecken und so unwirksam machen“.

In einem anderen Zeitungsbericht aus dem März 1982 wird Dr. Schriever allerdings auch dahingehend zitiert, dass er den damals involvierten Behörden misstraue: „Ich weiß nicht, was bei den Behörden gekocht wird, doch klar ist, dass es bei diesem heißen Thema um Regress und nicht um Ihre und meine Gesundheit geht.“

Was die „Schuldfrage“ in Sachen Blei betrifft, kam der damalige Mechernicher Beigeordnete und Volljurist Bernhard Wachter mit anderen Juristen zu dem Schluss, dass die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin der Bergbau betreibenden Preussag als „Zustandsstörerin“ anzusehen sei und per „Ordnungsverfügung“ verpflichtet werden müsse, „die von den Bleisandhalden ausgehenden Gefahren durch entsprechende Abdeckung und Rekultivierung zu beseitigen.“

Die Mechernicher Stadtverwaltungsspitze will in der aktuellen Blei- und Bodenbelastungsdiskussion nicht länger „den Kopf alleine hinhalten“, so Bürgermeister Dr. Hans-Peter Schick. Man werde ab sofort in Zusammenarbeit mit dem Kreis als Untere Boden- und Umweltbehörde auch die Verantwortlichkeiten von Land NRW (mangelnde oder ausgebliebene Einflussnahme über die Bergämter) und Bund (Nachfolge in der Kostenträgerschaft des Ex-Bergbaubetreibers Preussag) einfordern.